Von Anfang an ging es in Kirche darum, für gerechte Teilhabe zu sorgen. Diakonisches Handeln ist dabei wichtig.

Predigt über Apostelgeschichte 6,1–6: Für eine gerechtere Welt

Am 13. Sonntag nach Trinitatis, 06.09.2020 in Wiedenest und Derschlag. Veröffentlicht 06.09.2020, Stand 13.02.2024, 1572 Wörter.

Die Gnade unseres Herrn Jesus Christus, die Liebe Gottes und die Gemeinschaft des Heiligen Geistes sei mit Euch allen!

Liebe Gemeinde, als Jesus einmal gefragt wurde: »Welches ist das höchste Gebot?« antwortete er:

Das höchste Gebot ist das: »Höre, Israel, der Herr, unser Gott, ist der Herr allein, und du sollst den Herrn, deinen Gott, lieben von ganzem Herzen, von ganzer Seele, von ganzem Gemüt und mit all deiner Kraft« (5. Mose 6,4–5). Das andre ist dies: »Du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst« (3. Mose 19,18). Es ist kein anderes Gebot größer als diese.
— Mk 12,29–31 (Lutherbibel 2017)

Das Kreuz zeigt beide Gebote an: Der vertikale Teil steht für die Gottesliebe, der horizontale für die Menschenliebe und beide sind eine Herausforderung.

In der Kirche sind sie verbunden – sollten es zumindest sein. Hier sollte ein Ort sein, an dem wir vor Gott leben, aber auch auf unsere Nächsten achthaben. Die Wirklichkeit ist oft anders. In unserer Zeit kommt das Ich weit vor dem Wir.

Im Predigttext hören wir, dass schon in der Urgemeinde, damals in Jerusalem, nicht nur »eitel Sonnenschein« herrschte. Ich lese den Predigttext aus Kapitel 6 der Apostelgeschichte aus der Gute Nachricht Bibel:

(Apg 6,1–6) Die Gemeinde wuchs und die Zahl der Jünger und Jüngerinnen wurde immer größer. Da kam es – um eben diese Zeit – zu einem Streit zwischen den Griechisch sprechenden Juden in der Gemeinde und denen mit hebräischer Muttersprache. Die griechische Gruppe beschwerte sich darüber, dass ihre Witwen bei der täglichen Verteilung von Lebensmitteln benachteiligt würden.
Da riefen die Zwölf die ganze Gemeinde zusammen und sagten: »Es geht nicht an, dass wir die Verkündigung der Botschaft Gottes vernachlässigen und uns um die Verteilung der Lebensmittel kümmern. Darum, liebe Brüder, wählt aus eurer Mitte sieben Männer aus, die einen guten Ruf haben und vom Geist Gottes und von Weisheit erfüllt sind. Ihnen wollen wir diese Aufgabe übertragen. Wir selbst werden uns auch weiterhin mit ganzer Kraft dem Gebet und der Verkündigung der Botschaft Gottes widmen.«
Alle waren mit dem Vorschlag einverstanden. Sie wählten Stephanus, einen Mann voll lebendigen Glaubens und erfüllt vom Heiligen Geist; außerdem Philippus, Prochorus, Nikanor, Timon, Parmenas und Nikolaus, einen Nichtjuden aus der Stadt Antiochia, der zum Judentum übergetreten war. Diese sieben brachten sie zu den Aposteln. Die beteten für sie und legten ihnen die Hände auf.

Gott, wir danken Dir für Dein Wort. Sende Deinen Heiligen Geist, dass wir es fassen und zum unsrigen machen. Amen.

Liebe Gemeinde, »der Vorstand delegiert«. So wie Mose sich Leute zu Hilfe holte, als ihm die Arbeit über den Kopf wuchs,1 delegieren hier die Apostel in der Urgemeinde und setzen Diakone ein.

Zwei Dinge fallen an diesem Text auf:

  • Zum einen ist er männlich dominiert – keine einzige Frau kommt vor und
  • zum anderen könnte man mit etwas Mut diesen Text als Geburtsstunde einer organisierten Diakonie bezeichnen. Doch wir wissen: In der Diakonie arbeiten und engagieren sich bei uns überwiegend Frauen – da wären wir wieder bei der ersten Beobachtung.

Gerechtigkeit

Schauen wir auf die Sprache, die unserer Lebenswirklichkeit so wenig entspricht. Sprachgerechtigkeit ist ein wichtiges Thema in der jüngeren Generation und Sprache ist mit das Grundsätzlichste, was es gibt. Es gehört bei Kleinkindern neben dem Laufenlernen zum ersten größeren Entwicklungsschritt, eine Sprache – eine Muttersprache – zu erlernen.

Die Genderideologie vertritt die These, dass Frauen durch die Verwendung männlicher Sprachformen diskriminiert würden. Im Schriftgebrauch hat dies zum »Iota femininum« geführt, dem großen I, mit dem ein -innen an Pluralwörter angehängt wurde. So wurden aus den Kunden im Geschäft die KundInnen, mit großem I. Man hörte nur noch die weibliche Sprachform – diese bezeichnet aber ausschließlich Frauen: keine gute Lösung.

Seit gut zwei Jahren ist der Krieg der Sterne ausgebrochen. Wo früher ein Iota femininum war, steht jetzt ein Sternchen. Dies sei »geschlechtergerecht«.

Seit dem 1. September wird im Radio beim RBB-Jugendsender Fritz das »Gendersternchen« mitgesprochen. Die Programmchefin erklärte, dass dies »wie eine winzige Pause«2 klinge, also zum Beispiel wie »Kirchgänger innen«.

Sie merken: diese Versuche, neue Sprachregelungen durchzusetzen, bringen keine Verbesserung.

Aber dennoch: Geben Verhältnisse wie im Predigttext nicht deutlichen Anlass zur Kritik? Dass dort – und zwar nicht nur in der Sprache, sondern ganz real – eine reine Männergesellschaft als maßgeblich beschrieben wird, ist von unserer Warte aus nicht nachzuvollziehen. In unserer auch heute noch nur durch Männer geleiteten Schwesterkirche hat sich die Bewegung Maria 2.03 gebildet, um Frauen eine gleichwertige Stellung zu verschaffen.

Diakonie

Der Predigttext beschreibt eine antike Gesellschaft. In der evangelischen Kirche sind wir von den dort beschriebenen Verhältnissen weit entfernt. Mit Blick auf die Nachwuchssituation kann man sicher sagen: In Zukunft werden die Pfarrpersonen mehrheitlich Frauen sein. Auch für das Gemeindeleben gilt: Kirche ist überwiegend weiblich.

Der Predigttext wirkt in Hinblick auf unsere Situation fremd und sperrig. Was er beschreibt, ist dann aber etwas sehr Mütterliches: Es geht darum, dass niemand übersehen wird, dass alle satt zu essen haben.

In der Urgemeinde war das ein großes Problem, denn die Gemeinde wuchs rasch, zog viele Menschen an, und in kommunistisch anmutender Weise herrschte dort Gütergemeinschaft.4 Ein Problem hatten die Witwen derer, die außerhalb Israels gelebt hatten. Im Hellenismus hatten viele Juden, die außerhalb der Heimat gelebt hatten, die griechische Sprache übernommen. Damit waren sie in der jüdischen Gesellschaft zu Außenseitern geworden und dies übertrug sich auf ihre Witwen.

»Juden in christlicher Gemeinde?« mag man sich jetzt fragen. Die ersten Christinnen und Christen waren jüdisch, denn Jesus hat im Kontext seiner Religion gewirkt. Die große Öffnung geschah erst mit den Gemeindegründungen des Apostels Paulus in der heutigen Türkei.5

Die Witwen in der Urgemeinde führten ein hartes Leben.6 In der Urgemeinde wurden sie deshalb mitversorgt, sodass sie auskömmlich leben konnten.

Wie es gesellschaftlicher Brauch war, kamen diejenigen, die im Ausland gewesen waren, zu kurz. Und hier greift der Predigttext, berichtet davon, dass dieser Missstand kurzerhand abgeschafft wurde.

Die Apostel setzten deshalb Stellvertreter ein, die sich speziell in diesem Bereich engagieren sollten. Die erste Diakonie war gegründet und die Zustände besserten sich.

In der Sprache des Neuen Testaments, dem Altgriechischen, bezeichnet das Wort Diakonie eine dienende, tätige Liebe, die sich um andere sorgt und kümmert. Im Wochenspruch klingt dies an: Christus spricht: Was ihr getan habt einem von diesen meinen geringsten Geschwistern, das habt ihr mir getan. (Mt 25,40) Christenmenschen sollen nicht nur auf sich selbst, sondern auch auf andere schauen.

Bei uns ist die tätige Nächstenliebe – so ähnlich, wie es die Apostel gemacht haben, als sie die sieben Diakone einsetzten – heute in vielen Bereichen an die Diakonie delegiert worden. Gut, dass wir sie haben!

Diakonie hilft, wo andere dies nicht tun. Mit der Caritas bei unserer Schwesterkirche unterstützt sie in der häuslichen Krankenpflege vielfach.

Wichern

Johann Hinrich Wichern.

Wie wichtig und notwendig Diakonie ist, erkannte schon Johann Hinrich Wichern, der mit einer Rede auf dem Kirchentag (am 22. September) 1848 die moderne Diakonie gewissermaßen gründete. Er sagt zu ihrer Aufgabe – ich gebe es gekürzt und modernisiert wieder. Wichern sagte:

Die Liebe gehört zum Glauben. Die rettende Liebe – das ist die Diakonie – muss das Werkzeug werden, durch das Glaube als Tatsache erwiesen wird. Die Liebe muss in der Kirche als die helle Gottesfackel flammen, die kundmacht, dass Christus sich im lebendigen Gotteswort offenbart. Genau so muss er auch durch Taten verkündigt werden, und die höchste, reinste, kirchlichste dieser Taten ist die rettende Liebe, also diakonisches Handeln. Dies ist die Zukunft unserer Kirche.7

So wie in der Urgemeinde ging es Wichern darum, dass in der großen Armut im 19. Jahrhundert die Kinder nicht auf der Strecke blieben. Für ihn bedeutete dies,

  • sie zu versorgen,
  • zu erziehen und
  • ihnen durch eine Berufsausbildung die Möglichkeit zu einer selbstständigen Existenz zu ermöglichen.

Gerechtigkeit heißt, dass alle auskömmlich leben können. Im Predigttext ging es mit der Einrichtung einer organisierten Diakonie darum, dies zu erreichen. Durch die Geschichte sehen wir, wie dies weiter ging8 und bei Wichern die Grundlagen für eine moderne Diakonie gelegt wurden. Diese Diakonie bewegte sich nicht nur innerhalb der Gemeinde, sondern ging nach außen, holte alle Menschen ein.

Was Diakonie im Großen macht, kann bei uns heute Morgen im Kleinen weitergehen. Lassen Sie uns offene Augen für die Bedürfnisse unserer Nächsten haben und selbst diakonisch handeln, damit Menschen die Liebe Gottes ganz praktisch erfahren, damit die Welt ein gerechterer Ort werde – angefangen bei einer Sprache, die alle einschließt. Ein gutes Wort und eine helfende Hand sind erste Schritte dorthin.

Und der Friede Gottes, der höher ist als alle Vernunft, bewahre Eure Herzen und Sinne in Christus Jesus, Amen.


  1. Vgl. 2. Mo./Ex 18,13–27. ↩︎

  2. Siehe https://www.welt.de/vermischtes/article213839326/Radio-Fritz-will-Gendersternchen-in-den-Nachrichten-sprechen.html (abgerufen am 04.09.2020). ↩︎

  3. Siehe https://www.mariazweipunktnull.de/ (abgerufen am 01.09.2020). ↩︎

  4. Vgl. Apg 4,32. ↩︎

  5. Vgl. Auch Apg 10 die Vision des Petrus zur Öffnung über das Volk Israel hinaus. ↩︎

  6. Vgl. https://www.bibelwissenschaft.de/wibilex/das-bibellexikon/lexikon/sachwort/anzeigen/details/witwe-und-waise-at/ch/ (abgerufen am 01.09.2020). ↩︎

  7. Gekürzt und vereinfacht von Verf. Das Original lautet: » die Liebe gehört mir wie der Glaube. Die rettende Liebe muß ihr das große Werkzeug werden, womit sie die Tatsache des Glaubens erweist. Die Liebe muß in der Kirche als die Helle Gottesfackel flammen, die kundmacht, daß Christus im lebendigen Gottesworte sich offenbart, so muß er auch in den Gottestaten sich predigen, und die höchste, reinste, kirchlichste dieser Taten ist die rettende Liebe. Wird in diesem Sinne das Wort der inneren Mission aufgenommen, so bricht in unserer Kirche jener Tag ihrer neuen Zukunft an.«, zitiert nach https://www.glaubensstimme.de/doku.php?id=autoren:w:wichern:wichern-innere_mission (abgerufen am 02.09.2020). ↩︎

  8. Um nur ein Beispiel zu nennen, verweise ich auf den Johanniter-Orden, dessen Wurzeln mit den Maltesern bis ins Hochmittelalter zurückreichen, vgl. https://www.johanniter.de/die-johanniter/johanniterorden/ (abgerufen am 04.09.2020). ↩︎

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