Christus als guter Hirte und wir als die Schafe – ein provozierendes Bibelwort. Mit einem Schaf will ich nun wirklich nicht vergleichen werden. Doch das Bild lohnt einen zweiten Blick.

Predigt über Johannes 10,11–16: Von Lämmern und Böcken

Am 15. Mai 2009 und 23. April 2023. Veröffentlicht 23.04.2023, Stand 15.12.2023, 1241 Wörter.

Die Gnade unseres Herrn Jesus Christus, die Liebe Gottes und die Gemeinschaft des Heiligen Geistes sei mit Euch allen!

Liebe Gemeinde, dies wird eine wirklich »schafe« Predigt. Aber keine Angst: der Buchstabe R im Wort »scharf«, das einige jetzt vielleicht gehört haben, ist zu Hause geblieben. Also: eine »schafe« Predigt, denn im Predigttext geht es um Schafe.

Wir kennen dieses Bild, dass wir als Christinnen und Christen wie die Schafe seien, deren Hirte Jesus Christus heißt. Wir als die Schäflein der großen Herde, der Gemeinde Jesu Christi … der Predigttext in Johannes 10 füllt dieses Bild so:

Joh 10,11–16.(27–30) Jesus Christus spricht: Ich bin der gute Hirte. Der gute Hirte lässt sein Leben für die Schafe. Der Mietling aber, der nicht Hirte ist, dem die Schafe nicht gehören, sieht den Wolf kommen und verlässt die Schafe und flieht – und der Wolf stürzt sich auf die Schafe und zerstreut sie –, denn er ist ein Mietling und kümmert sich nicht um die Schafe. Ich bin der gute Hirte und kenne die Meinen, und die Meinen kennen mich, wie mich mein Vater kennt, und ich kenne den Vater. Und ich lasse mein Leben für die Schafe. Und ich habe noch andere Schafe, die sind nicht aus diesem Stall; auch sie muss ich herführen, und sie werden meine Stimme hören, und es wird eine Herde und ein Hirte werden. Meine Schafe hören meine Stimme, und ich kenne sie, und sie folgen mir; und ich gebe ihnen das ewige Leben, und sie werden nimmermehr umkommen, und niemand wird sie aus meiner Hand reißen. Mein Vater, der mir sie gegeben hat, ist größer als alles, und niemand kann sie aus des Vaters Hand reißen. Ich und der Vater sind eins.

Gott, wir danken Dir für Dein Wort. Sende Deinen Heiligen Geist, dass wir es fassen und zum unsrigen machen. Amen.

Jesus als Hirt

Bildkorrektur

Hach, wie schön: Jesus und die Schäfchen … aber offen gesagt stört mich dieses Bild von den Schafen. Mit einem Schaf will ich nun wirklich nicht vergleichen werden. Wenn ich an Schafe denke, finde ich Lamm mit Ratatouille viel besser oder einen schönen Pullover.

Liebe Gemeinde, ich weiß nicht, wie es Ihnen mit dem Bild von uns als den Schafen geht. Ein Schaf ist ein Herdentier, es läuft mit den anderen mit, trifft keine eigenen Entscheidungen. Mit so einem Biest will ich als selbstbestimmter Mensch doch nicht verglichen werden!

Und der Hirte? Dem haben diese Schafe ungefragt zu gehorchen. Das erinnert doch an manch totalitäres System, im Großen wie im Kleinen, wo man nach jemand anderes Pfeife zu tanzen hat.

Ein zweiter Blick auf den Text führt aber zu einer »Bildkorrektur«: Der Hirte im Text ist anders. Er ist kein totalitärer Herrscher. »Meine Schafe hören meine Stimme, und ich kenne sie, und sie folgen mir«, sagt er. Er ruft lediglich – die Schafe folgen freiwillig. Er sagt nicht: »Ich nehme meinen Hirtenstab und jage sie über die Wiese, ach, und den Hund hetze ich gleich hinterher.«

Der Hirt im Text ist ein Fürsorger. Hier wird das Hirtenbild des Alten Testaments aufgenommen, vorhin im 23. Psalm klang es an. Dieser Hirte führt zum »frischen Wasser«, meint es gut.

Wenn Christus als Hirte bezeichnet wird und dieses Bild so positiv gefüllt ist, habe ich kein Problem damit, »Schaf« zu sein. Dieses Bild vom Hirten, der seine Herde auf gute Weide führt, ist auch ein schönes. Darin klingt Idylle an und unser Urvertrauen wird angesprochen: Da gibt es jemanden, der für mich sorgt, der »meine Seele erquickt«, es gut mit mir meint.

Die Schatten

Im Predigttext sind auch Gegenbilder enthalten: das Bild vom Mietling, also dem angestellten Hirten. Der tut seinen Job von sieben bis vier und geht dann nach Hause. Und wenn es hart auf hart kommt, dann verduftet er und lässt die Herde Herde sein – so würde der Predigttext vielleicht modern formuliert klingen. »Der Mietling aber, der nicht Hirte ist, dem die Schafe nicht gehören, sieht den Wolf kommen und verlässt die Schafe und flieht … denn er ist ein Mietling und kümmert sich nicht um die Schafe« übersetzt es Luther.

Dass Christus der gute Hirte und wir seine Herde sind, wissen wir. Doch wer ist der Mietling und wer der Wolf? Es ist naheliegend, das Bild des Mietlings mit der Pfarrerin oder dem Pfarrer zu identifizieren. Beim Schreiben dieser Predigt fragte ich mich: Sollst du das wirklich aufnehmen? Wäre es nicht einfacher, das ganz nonchalant unter den Tisch fallen zu lassen? Denn vielleicht ist das eine ganz brauchbare Deutung! Doch beim Nachdenken darüber fiel mir auch anderes ein. Ein historisches Beispiel dazu:

Die Alten unter uns erinnern sich vielleicht aus ihrer Kindheit an Erzählungen über Pfarrer Heinrich Schmitz1 aus Bergneustadt. 1937 wurde er von den Nazis gewaltsam verfolgt, weil er sich eben nicht wie die im Text geschilderten Mietlinge verhielt, sondern sich tapfer vor seine Gemeinde, für ein unverfälschtes Evangelium, gestellt hat. Auch das Presbyterium stand mutig hinter ihm, unterstützte die »Bekennende Kirche«, die sich gegen die von den Nazis durchsetzte richtete, und hatte in Köln bei der Gestapo anzutanzen, um auf Linie mit dem NS-Staat und seiner Kirchenpolitik gebracht zu werden. Damals waren es »Wölfe«, die nach den Gemeinden griffen. Die Organisation »Deutsche Christen«, die mit dem Christentum überhaupt nichts zu tun hatten, wollte Adolf Hitler als wahren Christus etablieren und die Bibel umschreiben.2

Wer sind die Wölfe heute? Gott sei Dank leben wir nicht mehr in dieser schlimmen Zeit und haben Religionsfreiheit. Doch auch wir können solche »Wölfe«, wie sie der Predigttext anspricht, entdecken. Sind das nicht all die Dinge, die uns die Richtung im Glauben verlieren lassen und uns den Blick auf Jesus Christus als guten Hirten verstellen?

Gleichgültigkeit oder die heutige Abweisung von Religion ins Private sind so ein »Wolf«, der auf leisen Pfoten daherkommt und uns auf andere Wege führt. Und es gibt noch vieles andere, das so ist. Wir alle kennen unsere Versuchungen, wissen um die Dinge, Wünsche, Bedürfnisse, die uns wichtiger erscheinen als das Bleiben an diesem guten Hirten. Da ist es verheißungsvoll, wenn wir hören: »Meine Schafe kennen meine Stimme und folgen mir.«

In einer Zeit, in der Individualität und Selbstbestimmung verabsolutiert werden, erscheint das Bild vom Hirten und den Schafen, die sich von ihm weiden lassen, aber auch als Provokation.

Lassen wir uns provozieren und eine eigene Meinung dazu finden, wer Jesus Christus für uns ist! Wo wir dafür offen sind, werden wir erleben, dass er mit uns durchs Leben geht und uns nicht verloren sein lässt.

Ein Nachtrag zum Thema Schafe

Der Maler Pieter Bruegel (1525–1569) wurde auch »Bauern-Bruegel« genannt, weil er aus einer Bauernfamilie stammte und auf vielen seiner Bilder das dörfliche Leben dargestellt hat. Als er als Künstler weltberühmt war, wurde er auf einer großen und vornehmen Festlichkeit in Brüssel von einem Edelmann spöttisch gefragt: »Herr Bruegel, tut es Ihnen nicht manchmal weh, dass Sie eine so entsetzliche Jugendzeit erleben mussten? Ich hörte, dass Sie Jahre hindurch nur stumpfsinnige Schafe hüten mussten?« Bruegel sah den Spötter scharf an und entgegnete ihm: »Wissen Sie, bei den Schafen, da lernt man das Leben, und vor allem erkenne ich seitdem jeden Schafskopf auf den ersten Blick!«

Und der Friede Gottes, der höher ist als alle Vernunft, bewahre eure Herzen und Sinne in Christus Jesus. Amen.


  1. Siehe auch https://de.m.wikipedia.org/wiki/Heinrich_Schmitz_(Pfarrer), abgerufen am 21.04.2023. ↩︎

  2. Beispiele und Zitate der DC finden sich in der Standardausgabe der Barmer Theologischen Erklärung, siehe Alfred Burgsmüller und Rudolf Weth (Hg.): Die Barmer Theologische Erklärung, Einführung und Dokumentation, Neukirchen-Vluyn 5. Aufl. 1993, 36–41. ↩︎

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