Wie weit darf Glaube gehen? Ist kein Glaube oder ein Abtun von Glaube sinnvoll? Und was glaube ich eigentlich?

Predigt über Matthäus 14,22–33: Jesus und der sinkende Petrus – von den Grenzen des Glaubens

Am 16.01.2022, 2. Sonntag nach Epiphanias, in Wiedenest. Veröffentlicht 16.01.2022, Stand 13.02.2024, 1717 Wörter.

Die Gnade unseres Herrn Jesus Christus, die Liebe Gottes und die Gemeinschaft des Heiligen Geistes sei mit Euch!

Liebe Gemeinde, der Evangelist Matthäus schreibt im 14. Kapitel:

Und alsbald drängte Jesus die Jünger, in das Boot zu steigen und vor ihm ans andere Ufer zu fahren, bis er das Volk gehen ließe. Und als er das Volk hatte gehen lassen, stieg er auf einen Berg, um für sich zu sein und zu beten. Und am Abend war er dort allein. Das Boot aber war schon weit vom Land entfernt und kam in Not durch die Wellen; denn der Wind stand ihm entgegen.
Aber in der vierten Nachtwache kam Jesus zu ihnen und ging auf dem Meer. Und da ihn die Jünger sahen auf dem Meer gehen, erschraken sie und riefen: »Es ist ein Gespenst!«, und schrien vor Furcht. Aber sogleich redete Jesus mit ihnen und sprach: »Seid getrost, ich bin’s; fürchtet euch nicht!«
Petrus aber antwortete ihm und sprach: »Herr, bist du es, so befiehl mir, zu dir zu kommen auf dem Wasser.« Und er sprach: »Komm her!« Und Petrus stieg aus dem Boot und ging auf dem Wasser und kam auf Jesus zu. Als er aber den starken Wind sah, erschrak er und begann zu sinken und schrie: »Herr, rette mich!« Jesus aber streckte sogleich die Hand aus und ergriff ihn und sprach zu ihm: »Du Kleingläubiger, warum hast du gezweifelt?«
Und sie stiegen in das Boot und der Wind legte sich. Die aber im Boot waren, fielen vor ihm nieder und sprachen: »Du bist wahrhaftig Gottes Sohn!«
— Matthäus 14,22–33 (Lutherbibel 2017)

Gott, wir danken Dir für Dein Wort. Schenke uns, dass wir es fassen und zu unserem machen. Amen.

Liebe Gemeinde, diese Erzählung mutet ebenso fremd an, wie das Beschriebene vertraut klingt:

Das Fremdartige

Die Jünger sind im Boot auf dem See und trauen ihren Augen nicht, als Jesus auf dem Wasser zu ihnen kommt. Der alte Witz dazu hat die Pointe, dass er wusste, wo die Steine liegen.

Was halten Sie davon? Können Sie akzeptieren, dass Jesus auf dem Wasser gelaufen sein soll? Der Theologe Rudolph Bultmann hatte seine Schwierigkeiten mit solchen Bibeltexten, er sagte dazu:

Man kann nicht elektrisches Licht und Radioapparat benutzen, in Krankheitsfällen moderne medizinische und klinische Mittel in Anspruch nehmen und gleichzeitig an die Geister- und Wunderwelt des Neuen Testaments glauben. Und wer meint, es für seine Person tun zu können, muß sich klar machen, daß er, wenn er das für die Haltung des christlichen Glaubens erklärt, damit die christliche Verkündigung in der Gegenwart unverständlich und unmöglich macht.1

Also, mit Bultmann, doch lieber die Variante »Er wusste, wo die Steine liegen«? Der Seewandel widerspricht definitiv unserem physikalisch geprägtem Weltbild, weil so etwas darin nicht möglich ist. Als Junge konnte ich das im Freibad verifizieren und es stimmt: Menschen können nicht über (flüssiges) Wasser laufen.

Ich meine, dass das Problem des Seewandels in Wirklichkeit aber keines ist, Physik hin und eigene Erfahrung her. Alles das ist ein Problem, wenn wir auf der wortwörtlichen Ebene verharren. Wenn wir uns hingegen auf die Aussageebene begeben, löst sich das Befremdende auf, denn dann ist es egal, ob Jesus übers bloße Wasser lief, ob er gar Steine unter sich hatte oder ihn jemand anders mit einem Boot auf einer Sandbank abgesetzt hatte.

Nicht das Wie ist das Thema, sondern das, was ausgesagt wird. Die Aussage ist, dass bei Gott mehr möglich ist, als wir verstehen oder ihm zutrauen. Und darum, Gott etwas zuzutrauen, geht es.

Glaube und Wissenschaft – zwei Seiten evangelischen Christentums

Der Text beschreibt das so: Petrus fühlt sich Jesus ganz nah. Die unwirkliche Szene schiebt er beiseite, will regelrecht zu diesem Christus, bei dem das Gewohnte zum ganz anderen wird. Und er geht los.

Mit Gott zu leben, heißt, ihm etwas zuzutrauen. In unserer Welt ist das Gegenteil opportun, Religion und Glaube werden vermehrt verschwiegen, da Menschen daran Anstoß nehmen könnten. Viele sträuben sich dagegen, Gott etwas zuzutrauen.

Ich frage mich: Wie wenig Glaube ist eigentlich sinnvoll, wenn es darum geht, da weiterzukommen, wo uns Grenzen gesetzt sind? Ist alles Abtun von Glaube wirklich gut? Was geschieht beispielsweise, wenn wir krank werden, Wissenschaft und ärztliche Kunst nicht helfen? Gottvertrauen ist doch eine Kraftquelle!

Petrus vertraut Jesus, aller Erfahrung und Wahrscheinlichkeit zum Trotz. Er traut ihm zu, dass er mit seiner Hilfe übers Wasser gehen kann. Matthäus erzählt, dass er das auch ein paar Schritte weit geschafft hat, bis ihn die harte Wirklichkeit (oder die Physik) wieder einholte.

Umgekehrt: Wie weit sollte Glaube gehen? In unserem Glauben vertrauen wir auf Unfassbares, nicht Mess- und Belegbares und machen immer wieder die Erfahrung, dass da mehr ist, dass Gott uns trägt und in Krisen hilft, Wege zu finden.

Nein, zu wenig Glaube hat Petrus nicht. Doch hat er nicht eventuell auch zu viel davon? Ab wann wird Glaube eigentlich zum Wahn?

Gott etwas zutrauen – aber ja! Es wie Petrus machen – nein. Protestantischer Glaube ist wissenschaftlich geprägt, nicht umsonst haben die Reformatoren, Philipp Melanchthon allen voran, Bildung und Forschung gefördert. Christen sollten freie Geister sein und kompetent, Dinge zu hinterfragen, ihnen auf den Grund zu gehen und sich dann ein Bild zu machen.

Wissenschaft ist das Mittel, den Dingen auf den Grund zu gehen – dass man deren Begrenztheit nicht einfach ausklammern kann, liegt auf der Hand; Wissenschaft allein scheitert an ihrer Begrenztheit und sie zu verabsolutieren ist genauso wahnhaft wie eine losgelöste, schwärmerische Religiosität.

Für die Reformatoren stand Glaube auf festem Boden, bewegte sich eben nicht in einem luftleeren Raum, und Wissenschaft war ein Instrument zum Erkenntnisgewinn, aber nichts Absolutes oder gar ein Glaubensgegenstand.


Als Christus vom Satan versucht wurde, forderte der Versucher ihn auf, sich vom hohen Tempel zu stürzen, denn die Engel würden ihn auffangen. Jesus antwortete: »Du sollst den Herrn, deinen Gott, nicht versuchen.« (Mt 4,7c, vgl. 5. Mo/Dtn 6,16) Dies kann uns helfen, unseren Glauben richtig auszutarieren und ein gutes Gleichgewicht zwischen Vertrauen und Faktizität zu finden. Unser Glaube soll uns stärken, in der Welt zu bestehen. Er hat auch Folgen für unser Verhalten, wirkt sich im Alltag aus. Der Apostel Paulus schreibt: »Alles ist erlaubt, aber nicht alles dient zum Guten. Alles ist erlaubt, aber nicht alles baut auf. Niemand suche das Seine, sondern was dem andern dient.« (1. Kor 10,23f)

Wenn wir alle danach handelten, wäre viel gewonnen, denn wo Menschen wie Petrus handeln oder ihren Glauben als Persilschein nutzen, entziehen sie sich in ihrem Glauben dieser Welt und ihren Gesetzen. Das führt zu »harten Landungen« oder, wie bei Petrus, zum Verlust des Freischwimmers.

Mit Gott etwas wagen heißt, im Vertrauen auf ihn neue Schritte zu gehen. Eine wissenschaftliche Grundlage gehört protestantischerseits dazu.

Mit Gott etwas wagen

Auf dem Handzettel finden Sie ein Bild, das ein halbes Jahrtausend alt ist. Allori zeigt diese Szene aus Matthäus 14. Alles ist im Bild enthalten:

Allesandro Allori: San Pietro cammina sulle acque, 1595

Allesandro Allori (Firenze 1535–1607): San Pietro cammina sulle acque, 1595 Circa, signed and dated, oil on copper, Le Gallerie degli Uffizi, Firenze, inv. 1890 no. 1549. Foto: M. Platten, 2021.

Im Vordergrund reicht Jesus Petrus die Hand, vielmehr hält Petrus sich mit beiden Händen an ihm fest. Das heißt zu Glauben: Sein Herz an Gott festzumachen, Halt an ihm zu finden. Petrus gelingt das, mit Gottes Hilfe kommt er aus dem Schlamassel heraus, in den er sich gebracht hat, als er wider alle Vernunft gehandelt hat. Wer sich in Gefahr begibt, kommt darin um, heißt ein Sprichwort. Und selbst die Fische schauen aus den Fluten und sehen sich an, wer da ohne nachzudenken vorwärts stürmte. Jesus winkt ihm dann mit dem Zeigefinger der linken Hand zu, als ob er sagen würde: »Na, Petrus, da hast Du Dich wohl zu weit gewagt. Bedenke, Du bist nur ein Mensch.« Denn es ist Wahn, wenn man meint, im Glauben wie Gott zu sein.

Der Hintergrund ist, jenseits dieser Lektion in Sachen Verstandesgebrauch, viel interessanter. Strudel kreisen um das kleine Boot, das sichtlich durchgeschaukelt wird. Das Segel ist längst eingeholt und die Jünger versuchen, mit Rudern das Boot zu stabilisieren. Einer reckt die Hände zum Himmel, fleht um Hilfe, bevor es garaus ist.

Die Stadt im Hintergrund ist der völlige Gegensatz. Sie ist befestigt, Trutzmauern recken sich empor. Denen kann nichts und niemand etwas anhaben und wer in dieser Stadt ist, der ist sicher.

Das erinnert an den 46. Psalm:

Gott ist unsre Zuversicht und Stärke,
eine Hilfe in den großen Nöten, die uns getroffen haben.
Darum fürchten wir uns nicht, wenngleich die Welt unterginge
und die Berge mitten ins Meer sänken,
wenngleich das Meer wütete und wallte
und von seinem Ungestüm die Berge einfielen.
Dennoch soll die Stadt Gottes fein lustig bleiben
mit ihren Brünnlein, da die heiligen Wohnungen des Höchsten sind.
Gott ist bei ihr drinnen, darum wird sie fest bleiben;
Gott hilft ihr früh am Morgen.
— Psalm 46,2–6 (Lutherbibel 2017)

Die Stadt deute ich als Metapher für den Himmel: Bei Gott gibt es keinen »Sturm« und keine »Wasserstrudel«, die einen in den Untergang reißen wollen, das ist die Botschaft. Da, wo wir das aber erleben, ist Gott nicht fern, sondern an unserer Seite und reicht uns in Christus die Hand.

Schluss

Liebe Gemeinde, Glaube und Wissenschaft werden in unserer Zeit gegeneinander ausgespielt. Beide Lager, die Evangelikalen wie die Wissenschaftgläubigen, greifen zu kurz. Unser evangelisches Verständnis stützt sich auf beides, weiß sich im Spannungsfeld zwischen Glaube und Wissenschaft auf der Suche nach Gott und dem, »was die Welt im Innersten zusammenhält«2.

Was Glaube ich? Wie weit darf Glaube gehen? Ist kein Glaube oder ein Abtun von Glaube sinnvoll? Diese Fragen haben wir bedacht. Bei alledem weist uns der Predigttext darauf hin, dass Gott uns bei unserem Fragen und da, wo wir ihn suchen, die Hand reicht.

Das kann uns daran erinnern, dass wir anderen die Hand reichen. Auch dann, wenn festgefahrene Gegensätze oder unterschiedliche Meinungen Gemeinschaft vergiften, können wir mit Gottes Hilfe Hände reichen und auf demselben Weg unterwegs sein. Dieser Tage muss das Händereichen leider ein symbolisches bleiben, doch auch dies werden wir überwinden.

Und der Friede Gottes, der höher ist als alle Vernunft, bewahre Eure Herzen und Sinne in Christus Jesus, Amen.


  1. Rudolf Bultmann: Neues Testament und Mythologie. 1941, 18, zitiert nach https://de.wikipedia.org/w/index.php?title=Rudolf_Bultmann&oldid=218101774#Entmythologisierung_des_Neuen_Testaments, abgerufen am 03.01.2022. ↩︎

  2. Johann Wolfgang Goethe, Faust – Der Tragödie erster Teil, Tübingen 1808, Kap. Der Tragödie Erster Theil, Nacht, S. 34 Z. 382f, zitiert nach https://de.wikisource.org/wiki/Faust_-_Der_Trag%C3%B6die_erster_Teil, abgerufen am 10.01.2022. ↩︎

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