Was macht unser Leben reich und gelingend? Deutung eines Textes aus den Klageliedern Jeremias mit Rosenstolz' Lied »Wir sind am Leben«.

Predigt über Klagelieder Jeremias, Threni 3,22–26.31f: Wir sind am leben

Am 16. Sonntag nach Trinitatis, 9. Oktober 2011. Veröffentlicht 08.10.2011, Stand 06.09.2022, 1699 Wörter.

Die Gnade unseres Herrn Jesus Christus, die Liebe Gottes und die Gemeinschaft des Heiligen Geistes sei mit Euch allen!

Liebe Gemeinde, der Predigttext für heute steht im Buch der Klagelieder Jeremias. Die Situation: Israel ist ins Exil geführt worden, Babylon hatte gewonnen. Doch in die Klage mischt sich etwas anderes: erste Hoffnung – Hoffnung darauf, doch nicht völlig unterzugehen, sondern von Gott erhalten zu werden. Ich lese den Predigttext aus Kapitel drei der Klagelieder Jeremias:

Die Güte des HERRN ist’s, dass wir nicht gar aus sind, seine Barmherzigkeit hat noch kein Ende, sondern sie ist alle Morgen neu, und deine Treue ist groß. Der HERR ist mein Teil, spricht meine Seele; darum will ich auf ihn hoffen.
Denn der HERR ist freundlich dem, der auf ihn harrt, und dem Menschen, der nach ihm fragt. Es ist ein köstlich Ding, geduldig sein und auf die Hilfe des HERRN hoffen.
Denn der HERR verstößt nicht ewig; sondern er betrübt wohl und erbarmt sich wieder nach seiner großen Güte.
— Klagelieder 3,22–26.31–32

Gott, wir danken Dir für Dein Wort. Sende Deinen Heiligen Geist, dass wir es fassen. Amen.

Liebe Gemeinde, wir können uns als Adressatinnen und Adressaten dieser Verse verstehen und dann hören wir tröstende und Kraft gebende Worte, die in unsere schwierigen Momente hinein gesprochen klingen.

Hoffnung: aus dem Schatten ins Licht

Der Herbst ist jetzt da. Überall fallen die Blätter, die dunkle Jahreszeit bricht sich die Bahn. Im Kirchenjahr wird die Endlichkeit unseres Lebens zum Thema. In der Evangeliums-Lesung von der Auferweckung des Lazarus (Joh 11) ging es schon darum – und um die Hoffnung, die wir als Christinnen und Christen haben: Dass dieses Leben zwar endlich ist, Gott aber mehr für uns bereithält.

Diese Hoffnung klingt an. So wie auf den düsteren Herbst ein helles Frühjahr folgt, folgt auf dieses Leben ein anderes Sein bei Gott. Hierin liegt die Parallele zum Predigttext aus Jeremias Klageliedern: dass auf eine schwierige Situation etwas Neues folgt. Die Geschichte hat gezeigt: so ist es für Israel auch gekommen.

»Die Güte des HERRN ist’s, dass wir nicht gar aus sind, seine Barmherzigkeit hat noch kein Ende, sondern sie ist alle Morgen neu, und deine Treue ist groß.« Schön, wenn wir das sagen können. Es gibt ja Tage und Situationen, da ist man so darin »gefangen«, dass man kein »Morgen« mehr sieht. Das Jetzt, das Schwierige scheint alles andere zu verdrängen, so wie man nachts im Licht der Straßenlampe nur im Lichtkegel etwas sehen kann.

Was sind die Situationen, die uns das Leben schwer machen? Anders gefragt: Was macht mich »alle«?

Es gibt Ereignisse in unserem Leben, die uns herunterziehen. Manchmal ist da kein »Licht am Horizont«, sondern wir sind wie »das Kaninchen, das auf die Schlange starrt«.

»Der HERR verstößt nicht ewig; sondern er betrübt wohl und erbarmt sich wieder nach seiner großen Güte«, heißt es im Predigttext.

Fragen wir uns also umgekehrt: Wo erlebe ich das? Wo konnte ich schon erleben, dass Gott doch da war, durchgetragen hat? Und wie tut Gott das eigentlich in meinem Leben – wie und wodurch trägt er mich durch? Wo erlebe ich Gott als Hilfe?

Sie merken: mit diesem Predigttext können wir eine Menge Fragen stellen, den Text auf unser eigenes Leben beziehen.

Die Popgruppe Rosenstolz feiert seit wenigen Wochen ihr Comeback. Das Lied, das dem neuen Album seinen Namen gab, heißt »Wir sind am Leben«. Den Liedtext kann man als Deute-Folie zum Predigttext benutzen – lassen Sie uns das einmal tun!

Von Probieren und Versuchen ist in dem Lied die Rede, gleich zu Beginn. »Hast du alles probiert? Hast du alles versucht? Hast du alles getan?« – Drei Fragen, die es »in sich haben«. Es sind Fragen, die ein Resümee darstellen: so fragt man doch, wenn etwas nicht funktioniert oder man ein Ziel nicht erreicht hat. Die Frage, wie wir mit unserem Scheitern umgehen, deutet sich darin an.

»Wenn nicht, fang an!« endet diese Strophe – hier gibt es kein Verzagen oder ein Steckenbleiben. Der Blick geht im Lied nicht nach unten, hier geht es weiter, selbst wenn man an etwas gescheitert ist: Es geht weiter und Sumpf und Treibsand sind dem Lied nicht bekannt.

Wenn nicht, fang an – das können wir auf unsere Geschichte mit Gott hören und deuten. Schritte im Glauben zu wagen, nicht stehenzubleiben – das macht ein lebendiges Glaubensleben aus. Und dann dreht sich die Welt wirklich.

Loslassen, abgeben, weitergeben

Die dritte Strophe setzt das Fragen fort. »Was willst du geben?« – hier wird die Perspektive umgedreht. Es geht nicht mehr darum, zu bekommen. Es geht um das, was wir machen können, wo wir anpacken können, wo wir mehr haben, als wir brauchen.

»Die Güte des HERRn ist’s, dass wir nicht gar aus sind, seine Barmherzigkeit hat noch kein Ende, sondern sie ist alle Morgen neu« – das ist eine Verheißung, die uns klarmacht, dass Gott uns gibt, was wir brauchen, an jedem einzelnen Tag. Wo wir uns an Gott befestigen, wird er uns zu einer nie versiegenden Kraftquelle, aus der uns zuletzt sogar Überschuss erwächst: Wir haben mehr, als wir brauchen und können abgeben.

Was es ist, das wir abgeben können? Das, wovon wir am meisten haben, und das ist bei jedem etwas anderes: Der eine hat Zeit, kann sie für andere einsetzen. Eine andere kann etwas besonders gut und kann dies in den Dienst anderer stellen. Wovon haben Sie an Können, Möglichkeiten, Mitteln und Begabungen mehr, als Sie für sich selbst benötigen – wo und wie könnten Sie davon weitergeben?

»Was gibt dir den Frieden / und was ist liegen geblieben« geht das Lied weiter. Hier wird die Frage nach dem gestellt, was uns erfüllt, satt macht, uns Ruhe gibt, und ebenso wird nach dem Gegenteil gefragt, nach dem, was uns nachts nicht schlafen lässt, uns wach hält und grübeln lässt.

Auch der Predigttext spricht von Harren auf Gott und der Notwendigkeit des geduldig Seins und des Hoffens.

Glauben

In der auf den Refrain folgenden Strophe werden diese Fragen fortgesetzt. »An was willst du glauben oder glaubst du an dich?« – das ist eine religiöse Frage; mit Goethe gesagt: die Gretchenfrage: Glaube ich?

Jeder Mensch glaubt an etwas, und sei es nur, dass man glaubt: der Stuhl, auf dem ich gerade sitze, wird ebenso wenig zusammenbrechen wie das Dach über mir. Die Frage nach dem Glauben in religiöser Hinsicht geht viel weiter. Es ist die Frage nach dem, wovon man sein Heil erwartet.

Heil ist ein altes Wort, Synonyme dafür sind Glück, Segen, Wohlbefinden, Erlösung und Seligkeit. Am letzten Wort merken Sie: es geht um unser Innerstes, um das, was uns im Herzen, im ganzen Leben Perspektive, Hoffnung und Ziel haben lässt.

Wir Christen glauben Jesus Christus als unseren Heiland – als den, der uns jenseits dieses Lebens eine Perspektive schenkt. Er kam in eine noch nicht erlöste Welt, in der alles Leben endlich ist. Er kam in eine Welt, in der das Scheitern und Versagen Teil von uns Menschen ist.

Christus hat dies überwunden und schenkt das auch uns. Das können wir als Kraft nutzen, gerade auf den Durststrecken, wo wir Gott fern erleben und nur unsere Probleme, aber nicht die Lösung erkennen. Wo unser Leben bruchstückhaft bleibt und nicht die Wege findet, die wir uns wünschen oder erträumen – da können wir im Glauben an den sich in Christus offenbarenden Gott Heil mitten im Unheil finden, ergreifen und uns daran festhalten.

Das Lied spricht mit dem »Oder glaubst du an dich« an, was üblich ist. Viele Menschen halten sich nicht an Gott, sondern an sich selbst. Und das geht in vielen Situationen im Alltag ganz ausgezeichnet. Wozu sich an Gott, Religion oder öde Gottesdienste halten, wenn man seines eigenen Glückes Schmied sein kann – oder seine Schmiedin.

So denken viele und, aus christlicher Sicht, denken sie da ganz schön zu kurz. Wer sich selbst heil machen will, versucht sich wie Baron Münchhausen am eigenen Schopf aus dem Sumpf zu ziehen. Und Erfolg, Geld, Ansehen, Ruhm, usw. ist letztlich nur ein tönernes Fundament, wenn man ein Leben darauf aufbauen will.

Wer an sich selbst glaubt, muss sich selbst heil machen. Er muss sein eigener Gott sein – das ist ein hoffnungsloses Unterfangen, denn Heil kann nicht aus uns selbst kommen.

Nochmals zum Lied; darin heißt es sinngemäß: Wer glaubt an mich? Wer betrügt und belügt mich? An welchen Schlössern knacke ich, ohne sie aufzubekommen? Was lässt mich in die Knie gehen? – So lauten die weiteren Fragen in dieser Strophe.

Gott erhält uns

Egal, wie wir sie durchdenken und zu welchem Ergebnis wir dabei kommen: wo wir uns klarmachen, dass wir zu Gott gehören, uns an ihm fest machen, haben wir einen Halt. Da wird Gott wie das Sicherungsseil, das den Bergsteiger beim Sturz auffängt – im Englischen heißt es life line, was ein viel stärkeres Wort ist.

»Die Güte des HERRn ist’s, dass wir nicht gar aus sind« – Gott ist es, der uns erhält, der uns Hoffnung gibt und der unsere existenziellen Fragen beantwortet und den Fragen in der schlaflosen Nacht die richtige Bedeutung zuweist. Den Refrain »Du bist am Leben / Wir sind am Leben / Ich kann Deinen Herzschlag hören« deute ich dann auch so:

Gott hört unseren »Herzschlag« – das, was lebensnotwendig ist, kennt er. Was ist denn im übertragenen Sinn unser Herzschlag? Es sind unsere Gedanken, unsere Hoffnungen, unser Sorgen und unser Fragen. Und Gott hört unsere Gebete und unser Rufen, auch wenn wir seine Antwort doch meistens nicht hören – harren und geduldig sein müssen.

Aber fragen wir uns trotzdem: Wo hören wir ihn? Wo dreht sich unsere Welt weiter, weil Gott uns aufhilft durch Wege, Möglichkeiten, andere Menschen zum Beispiel?

Liebe Gemeinde, wo wir darauf eigene Antworten suchen, werden wir mehr als nur diese finden. Das ist eine Möglichkeit, Gottes Handeln in unserem Leben neu zu entdecken. Wo uns das gelingt, können wir auch den schwierigen Dingen in unserem Leben eine angemessene Bedeutung einräumen, im Vertrauen darauf, dass unser Heil durch Christus in Gott geborgen ist. »Denn die Güte des HERRn ist’s, dass wir nicht gar aus sind« – oder mit dem Lied gesagt: »Wir sind am Leben.« Gott sei Dank!

Und der Friede Gottes, der höher ist als alle Vernunft, bewahre eure Herzen und Sinne in Christus Jesus. Amen.

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